Anna Kathrin Bleuler, Ludwig-Maximilians-Universität München.
Die Münchener Texte und Untersuchungen zur deutschen Literatur des Mittelalters (MTU), seit Band 102 beim Max Niemeyer Verlag, machen bisher nicht oder ungenügend erschlossene Texte, Stoffe und Gattungen zugänglich. Neben höfischem und Heldenepos und der Lieddichtung des Hohen und Späten Mittelalters sind vor allem auch Prosaschriften des weltlichen und geistlichen Bereichs, vom theologischen Traktat über die Mystik bis zum Spiel und zur Sachliteratur aus der mittelalterlichen Alltagswelt vertreten.
Die Auswahl der publizierten Werke besorgt ein internationales Gremium von Mediävisten verschiedener Disziplinen.
Das Buch setzt sich am Beispiel der Sommerlieder des späthöfischen Minnesängers Neidhart mit der Überlieferungsproblematik mittelalterlicher Lyrik auseinander. Neidharts Lieder sind nicht als autorisiertes uvre überliefert, sondern als untereinander stark abweichende Rezeptionszeugnisse. Die Forschung ist diesem Problem zumeist ausgewichen, indem sie sich auf die stark selegierenden, dem Verdikt der Echtheit geschuldeten Neidhart-Ausgaben des 19. und 20. Jh.s bezogen hat. Diese Untersuchung setzt nicht bei der Überlieferungsvarianz an, sondern bei einer Sondierung übereinstimmender Merkmale und Konstellationen, in denen sich ein rekurrentes poetologisches Muster der Sommerlieder abzeichnet, das letztlich jedem Produktions- und Rezeptionsvorgang vorausgeht. Von dieser Ebene aus wird ein methodischer Ansatz zur Strukturierung und Beurteilung der Sommerliedüberlieferung entwickelt, der einerseits der genuin mündlichen Vortragsform der Texte und andererseits ihrer Überlieferungsgebundenheit Rechnung zu tragen sucht. Entscheidend neu dabei ist die Zusammenführung von Überlieferungskritik und poetologischer Interpretation als einander ergänzende Methoden der Textphilologie.