Wahre Glücksmomente und Inflation der Herzlichkeit

Glückwunschbillets des Biedermeier
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Gewicht:
530 g
Format:
207x207x12 mm
Beschreibung:

Ulrich Pfarr, geb. 1967, studierte Kunstgeschichte, Provinzialrömische Archäologie, Klassische Archäologie und Psychoanalyse in Frankfurt a. M. und war nach einem Lehrauftrag an der HfG Offenbach Stipendiat des Graduiertenkollegs »Psychische Energien Bildender Kunst«. 2002 Promotion, bis 2004 Tätigkeit an der Staatsgalerie Stuttgart. Zur Zeit wissenschaftlicher Mitarbeiter für ein interdisziplinäres Ausstellungsprojekt. Schwerpunkte: Europäische Kunst des 18. bis 20. Jahrhunderts, Methodenfragen, Klinische Aspekte der kunsthistorischen Emotionsforschung.
Man kann auf die Zeit des Biedermeier mit seinen vielschichtigen Facetten von avantgardistisch-modern bis konservativ-reaktionär ebenso vielschichtig reagieren. Selten bot eine Zeit so viele unterschiedliche Identifikationsmöglichkeiten, was Fluch und Segen zugleich sein kann. Was aber die hier vorgestellte Gattung des Freundschafts- und Glückwunschbillets angeht, so entfaltet sie generations- und präferenzübergreifend eine Sogwirkung, der man sich nur schwer entziehen kann.Es ist die gelungene Kombination von Schrift und Bild auf engstem Raum, die Verschmelzung von Kunsthandwerk und Kunstwerk, die Interaktion von Objekt und Betrachter, der oft genug zum Benutzer wird, die uns auch heute noch in ihren Bann schlägt. Dazu gesellt sich stets eine mehr oder weniger starke Brise Witz, die im emotionalen Aktionsgeflecht des Rezeptionsrahmens eine starke Bindung herstellt. Wie aktuell all dies ist, zeigt ein Blick auf heutige Tendenzen der Kunst, die ihre Legitimation oft genug aus handwerklicher Brillanz, humoresker Sättigung oder der Grenzauflösung zwischen Es und Ich zieht.
Es wäre zu viel des Guten, den Billets eine visionäre Modernität zuschreiben zu wollen. Vielmehr vermögen sie auch heute noch zu faszinieren, weil sie ein Grundproblem der Gesellschaft aufzeigen: die zwischenmenschliche Beziehung. Nichts ist komplexer und undurchsichtiger und für den Einzelnen schwerer zu bewältigen. Jede Zeit findet hierfür ihre eigenen Lösungsvorschläge, die Basis aber bleibt immer gleich. Dass die Biedermeierbillets freilich ihre Wurzeln nicht verhehlen und sich durch präzise Eleganz und spielerische Ausschweifung als Zeitzeugen ihrer Generation präsentieren, ist deutlich. Doch sie transportieren eben auch eine Botschaft, die nicht in ihrer Zeit verharrt. Daher gibt es zwei Möglichkeiten, sich diesen Objekten zu nähern: als historische Objekte, deren kultureller und sozialer Kontext nur noch analysierend zu begreifen ist, oder als ahistorische Objekte, deren basale Funktion im Gegensatz zu ihrem äußeren Gepräge unabänderlich ist. Die Tatsache, dass man die Billets auch heute noch in mehrfacher Hinsicht benutzen und sich auf die Interaktion mit ihnen einlassen kann, sie also nicht bloß wie ein Kunstwerk rezipiert, spricht dafür, dass sie auch heute keine Fremdkörper aus einer geradezu unmöglich scheinenden nicht-digitalen Welt sind.

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